Ausgangslage und Zielsetzung

Der Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologie (IuK-Technologie) wird zunehmend zu einem Erfolgsfaktor in praktisch allen Organisationsformen. Vor allem durch die Verwendung von Standardsoftware konnten wirtschaftlich erfolgreiche Lösungen realisiert werden. Die Entwicklung von Standardsoftware orientierte sich primär an Unternehmensfunktionen und vorgegebene betriebliche Abläufe. Bei der Einführung von Standardsoftware wurden diese Abläufe übernommen und den unternehmensspezifischen Gegebenheiten entsprechend angepasst. Im Falle von Individualsoftware wurde zumeist auf Basis der vorhandenen Funktionen und Abläufe (Einkauf, Verkauf,..) eine Anforderungs-Spezifikation angefertigt und darauf aufbauend die Systeme entwickelt.

Für unsere Überlegungen ist die Tatsache relevant, dass in einem ersten Schritt die Anforderungen an die zukünftige Informationstechnologie (IT) in der Spezifikation formuliert und dann in einem zweiten Schritt entwickelt und implementiert werden.

Durch die zunehmende Verbreitung des Konzepts des Business Reengineerings (BRE) haben sich wesentliche Veränderungen ergeben, die unter anderem die Rahmenbedingung für den Einsatz der IT wesentlich verändert haben. Hammer definiert BRE in [HAM94, S. 48] als "..fundamentales Überdenken und radikales Re-Design von Unternehmen oder wesentlichen Unternehmensprozessen“.

Die Ziele des BREs gliedern sich in:

§         Erzielung  dramatischer Verbesserungen

§         in Kosten, Qualität, Schnelligkeit und Kundenzufriedenheit

§         durch die Schaffung von prozessorientierten Abläufen.

Für unsere Überlegungen, sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung:

1.      Einerseits möchte man durch BRE den Übergang von funktionalen Organisationsformen (mit hierachischer Gliederung) zu prozessorientierten Organisationsformen erreichen. Darunter versteht man, dass gleichartige Aufgaben (F&E, Produktion, Marketing,..) durch Prozesse ersetzt werden, in denen alle notwendigen Aktivitäten zusammengefasst sind, um ein Prozessergebnis zu erreichen.

2.      Andererseits wird IuK-Technologie gezielt und konsequent zur Abwicklung der neu geschaffenen Abläufe eingesetzt. Darüber hinaus werden durch den IT-Einsatz neue Prozesse und Prozessvarianten geschaffen (eCommerce, eBusiness,..), die ohne die Verfügbarkeit moderner IT wirtschaftlich und technisch nicht möglich wären.

Um die im Konzept des BREs vorgeschlagene Geschäftsprozess-Gestaltung realisieren zu können, ist der Einsatz von IuK-Technologie unerlässlich. Die tragende Rolle der IuK-Technologie wird zwar ausführlich beschrieben, nicht aber auf welche Art und Weise IT für die neu gestalteten Prozesse eingesetzt werden kann oder soll [HAM94, S. 112ff].  In Anlehnung an Hammer können einige Überlegungen und Regeln zur Prozessgestaltung genannt werden:

§         Prozesse ergebnisorientiert, nicht aufgabenbezogen organisieren.

§         Funktionsübergreifende Ausrichtung der Aktivitäten am Prozessergebnis.

§         Minimierung der externen Schnittstellen und der Zahl der am Prozess Beteiligten.

§         Unterscheidung in Kern- und Supportprozesse.

§         Bildung von Prozessvarianten.

Eine methodische Vorgehensweise für Prozessanalyse und –gestaltung erläutert Jacobson in seinem Beitrag zur objektorientierten Unternehmensmodellierung in [JAC98, S. 722-756].  Auf dieser Methodik bauen IT-basierte Modellierungswerkzeuge (z.B. AENEIS®) auf und schaffen damit wesentliche Voraussetzungen für den Einsatz von Prozessmodellen in der Praxis [LAN94].

Solution Engineering [SCH99] ergänzt das Konzept des BREs um Unternehmensmodellierung  und um Verfahren der Prozessbewertung hinsichtlich dem Grad der Zielerreichung. So schafft Solution Engineering die Möglichkeit, die Effektivität und Effizienz der neu gestalteten Prozesse auf Modellebene zu bewerten und  Wirtschaftlichkeitsüberlegungen zu einem frühen Zeitpunkt – noch vor Entwicklung der Software – durchzuführen [SCH01].

Prozessmodelle sind im Vergleich zu anderen Beschreibungsformen (Flusspläne, Text,..) hervorragend dafür geeignet, die Anforderungen an die Informationsverarbeitungssysteme (IV-Systeme) zu spezifizieren.  Vor allem dann, wenn nicht nur die Prozessabläufe, sondern auch die Informationsobjekte und der Bearbeitungsablauf modelliert werden.

Durch die Darstellung von Prozessen und Informationssystemen (IS) in einem Modell wird folgender  Sachverhalt erkennbar:

Zwischen Prozessgestaltung und IV-Systemen bestehen ausgeprägte Wechselwirkungen, die der Anwender bereits vorweg bei der Prozessgestaltung berücksichtigen müsste,  um die wirtschaftlichste Prozessvariante entwickeln und die Anforderungen für die Systementwicklung spezifizieren zu können [SCH99].

Je stärker sich die neu gestalteten Prozesse von den bestehenden Ablaufformen einschließlich der IT-Unterstützung unterscheiden, desto stärker ist die Wechselwirkung und desto schwieriger wird der Gestaltungsprozess für den Anwender.

Ein erster Ansatz zur Lösung dieser Probleme wird von Braun in Form des „Business Reengineering Labors“ beschrieben [BRA94].  Wenn man davon ausgeht, dass Standardsoftware mit Referenzmodellen („ideale Firma“) zur Verfügung steht, dann ist dieser Ansatz erfolgversprechend. Wir stellen einen Ansatz vor, der nicht an das Vorhandensein einer bestimmten Standardsoftware gebunden ist, sondern sowohl zur Auswahl und Anpassung von Standardsoftware als auch zur Entwicklung von Individuallösungen herangezogen werden kann.

Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht folgende Annahme:

Die  Benutzerschnittstelle des zukünftigen IV-Systems repräsentiert die mögliche IT-Unterstützung so anschaulich, dass der Anwender in der Lage ist, bereits im Rahmen der Prozessgestaltung die Möglichkeiten der IT-Unterstützung  simultan zu berücksichtigen und auf Modellebene schrittweise solange zu verbessern, bis die wirtschaftlichste Prozessvariante gefunden ist.

Darauf aufbauend wollen wir zeigen,  dass es mit Hilfe des Modellierungswerkzeugs AENEIS® möglich ist, aus den Geschäftsprozessen  IS-Modelle abzuleiten, um aus den IS-Modellen automatisiert Prototypen von Benutzerschnittstellen zu generieren (ProtoGen). Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass die Bearbeitungszyklen auf Modellebene – ohne Programmieraufwand – wiederholt durchgeführt werden können.

Das Ergebnis dieser Bearbeitungszyklen sind Prozess- und IS-Modelle einschließlich der Benutzerschnittstelle, die eine eindeutige und vollständige Spezifikation der Systemanforderungen darstellen. Software-Entwicklern sollte es anhand dieser Vorgaben möglich sein, sowohl Standardsoftware unternehmensspezifisch anzupassen als auch Individualsoftware neu zu entwickeln und zu implementieren.

Schließlich wollen wir die Vorteile aufzeigen, die Kollaboration über ein Web-Interface mit sich bringt. Zu diesem Zweck stellen wir eine Internet-Plattform zur Verfügung, die dezentrale, zeitlich voneinander unabhängige und simultane Entwicklung von Prozess-Modellen und IV-Systemen ermöglicht.